Haupinhalt

Gesamterneuerungswahlen in Emmen: Ein demokratisches Update

19. März 2024
Am 28. April 2024 finden in Emmen Gesamterneuerungswahlen statt, die den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit bieten, die Zusammensetzung des Gemeinderats, des Einwohnerrats und der Bürgerrechtskommission neu zu bestimmen. Diese Wahlen bieten eine direkte Gelegenheit zur Mitgestaltung, indem sie es der Emmer Stimmbevölkerung ermöglichen, entscheidenden Einfluss auf die Richtung und Prioritäten der lokalen Politik in den nächsten Jahren zu nehmen.

Das schweizerische Wahlsystem zeigt auf Gemeindeebene eine besondere Vielfalt und ist von einem Mix aus Majorz- und Proporzwahlrecht geprägt. In Emmen zeichnen sich die Wahlverfahren durch eine Kombination aus Majorzwahlrecht für den Gemeinderat und Proporzwahlrecht für den Einwohnerrat aus.

Die politische Vielfalt in Emmen wird durch eine breite Auswahl an Parteien repräsentiert. Für ein detailliertes Verständnis der aktuellen Sitzverteilung und der damit verbundenen politischen Konstellationen verweisen wir auf die im Artikel beigefügten Grafiken. Um die Bedeutung und die möglichen Auswirkungen dieser Wahl weiter zu beleuchten, haben wir mit Mark Balsiger, einem Politologen und Experten für politische Kommunikation, gesprochen.

Wie können sich Wählerinnen und Wähler am besten mit den Wahlen auseinandersetzen und sicherstellen, dass sie ausreichend informiert wählen?
Es braucht einen Dreiklang: Information – Diskussion – Reflexion. Eine wichtige Funktion haben die Medien inne. Weil die Werbegeldern zunehmend zu den Tech-Giganten fliessen – inzwischen zwei Milliarden Franken pro Jahr! – fehlen den Medien zunehmend die Ressourcen. Das ist problematisch. Deshalb ist wichtig: Wer den Parteien und Kandidierenden auf den Zahn fühlen will, geht an Podien, hört zu und stellt Fragen.

Die Schweiz hat im Herbst 2023 ihr neues Parlament gewählt. Wirken sich die Ergebnisse von nationalen Wahlen auf kantonale und kommunale aus?
Es gibt tatsächlich ein grobes Muster: Die Resultate der nationalen Wahlen werden in den darauffolgenden zwölf Monaten bei kantonalen Wahlen mehrheitlich bestätigt. Eine Erhebung, die sich auf mögliche Effekte auf Gemeindewahlen fokussiert, ist mir jedoch nicht bekannt. 

Nebst den etablierten Parteien mischt heuer auch die parteiunabhängige Interessensgruppe «Frauen engagiert in Emmen» (FeE) an den Gesamterneuerungswahlen mit. Wie steht es in grossen Agglomerationsgemeinden um die Chancen solcher Interessengruppen, die keine der etablierten Parteien im Hintergrund wissen?
Eine lebendige Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass immer wieder neue Gruppierungen entstehen und ihre Sicht einbringen. Auf Gemeindestufe gibt es viele solche Beispiele, die den etablierten Parteien die Stirne bieten und in den Parlamenten mehr als nur ein Farbtupfer sind. Wenn die FeE-Mitglieder in Emmen gut vernetzt sind, eine Nische besetzen können und einen aktiven Wahlkampf bestreiten, liegt etwas drin. 

Bei den nationalen Wahlen 2023 hat die FDP Wähleranteile verloren. In Emmen tritt Thomas Lehmann (FDP) als einziger bisheriger Gemeinderat nicht mehr an. Wie schwer wird es angesichts des nationalen Trends für die lokale FDP, ihre beiden Sitze in der Emmer Exekutive zu verteidigen?
Generell ist die FDP auf Gemeindestufe sowohl in den Parlamenten wie in den Exekutiven sehr gut vertreten und hat als Partei starke Wurzeln. Vor Jahresfrist bei den Kantonsratswahlen holte die FDP in Emmen etwas mehr als 20 Prozent. Vor diesem Hintergrund scheint mir ein Einbrechen abwegig zu sein.

Stichwort Bisherigen-Bonus: Ist die Wiederwahl der wiederantretenden Gemeinderäte nur Formsache? Oder kann es hier zu Überraschungen kommen?
Die Statistik zeigt, dass Bisherige einer Exekutive, also Regierungsrätinnen oder Gemeinderäte, die Wiederwahl nur selten verpassen. Ihr Wirken wird von den Wahlberechtigten meistens als solid gewertet, zudem sind sie meistens bekannter als solche, die zum ersten Mal kandidieren.

Der Einwohnerrat in Emmen kämpft mit Absenzen und Fluktuation. Wie könnten solche Herausforderungen angegangen werden, um die Stabilität und Glaubwürdigkeit des Gremiums zu gewährleisten?
Zunächst: Es wäre noch nichts gewonnen, wenn an praktisch jeder Sitzung des Einwohnerrats alle 40 Mitglieder präsent sind. Zentraler ist, dass sie sich auf die Geschäfte vorbereiten und in den Fraktionen zu einer klaren Position kommen. Politisieren ist ein Hobby, bei dem man enorm viel lernt – und der Allgemeinheit, wie beispielsweise der Gemeinde Emmen, viel geben kann. Milizpolitik muss in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert erhalten. Wer sich engagiert, hat einen kompletteren Lebenslauf. Ein Mittel gegen die hohe Fluktuation: Parteien und die Verwaltung täten gut daran, die Kandidierenden besser auf ihre Tätigkeit im Einwohnerrat vorzubereiten.

Wie kann man effektiv jüngere Menschen und generell «Nachwuchs» für eine aktive Rolle in der Gemeindepolitik, insbesondere für den Einwohnerrat, gewinnen?
Das greift mir zu kurz, es braucht eben nicht nur genügend Kandidatinnen und Kandidaten, sondern viele politisch interessierte Menschen. Entscheidend ist die Phase im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Wer sich dann für Politik zu interessieren beginnt – dank der Schule, dem Elternhaus oder Diskussionen im Freundeskreis –, wird angefixt und bleibt in der Regel dabei. Eine Mehrheit der Teenager wächst heute apolitisch auf, d.h. zu Hause ist Politik kein Thema. Dabei ist Politik hoch spannend – im Grossen, wie zum Beispiel der Entscheidung in den USA, wer im Herbst Präsident wird, wie im Kleinen, also was in Emmen vor der Haustüre geschieht.

Die Gemeinde Emmen wählt und stimmt in der Regel eher konservativ, während in (Gross-)Städten vielfach Anliegen vom linken Parteispektrum Gehör finden. Was ist dran an der Gleichung «je urbaner, desto linker»? Und wird die Gemeinde Emmen mit zunehmender Urbanisierung vermehrt links wählen und abstimmen?
Die Kernstädte verändern sich demografisch. Lange Zeit zogen junge Familien aufs Land, seit etwa 15, 20 Jahren ist der gegenläufige Trend zu beobachten. Viele dieser jungen Leute wählen tatsächlich explizit links. Die grössten Städte der Schweiz haben alle eine strukturelle linke Mehrheit. Wenn der Siedlungsdruck weiter anhält, d.h. wenn viele urbane Leute gezwungenermassen auf Agglo-Gemeinden ausweichen müssen, verändert sich auch die Wählerstruktur.

Welche weiteren Instrumente der Bürgerbeteiligung (neben Wahlen) könnten in Emmen gestärkt werden, um die Einbindung der Bevölkerung in politische Prozesse zu verbessern?
Zum Glück hat Emmen entschieden, bei der tiefen Wahlbeteiligung anzusetzen. Beim Prozess der nächsten Jahre ist es wichtig, dass man «out of the box» denken kann. Es braucht den Mut, ausserhalb der gängigen Schemen Neues zu versuchen. Eine wichtige Rolle könnten die 180 Vereine Emmens spielen. Sie haben feine Wurzeln in die unterschiedlichsten Milieus, d.h. sie sind nahe bei den Menschen. Emmen hat einen Ausländeranteil von über 35 Prozent. In vielen welschen Gemeinden gilt schon seit Jahrzehnten das Ausländerstimmrecht. Das sollte man ohne Tabus diskutieren. Mehr Bürgerrechte bedeutet oftmals auch eine verbesserte Integration.

Was könnten Best Practices für die politische Bildung in Emmen sein, um insbesondere junge Menschen besser für Politik zu sensibilisieren und zu aktivieren?
Wäre ich Lehrer in Emmen würde ich einen Schwerpunkt bei den kommunalen Wahlen vom April setzen, egal, was im Lehrplan steht. Ich würde die Programme der verschiedenen Parteien mit den Schülerinnen und Schülern analysieren und einzelne Parteimitglieder ins Schulzimmer zu Gesprächen einladen.

Wahlpodium, 26. März 2024
Wahlpodium mit Kandidatinnen und Kandidaten für den Emmer Gemeinderat, moderiert von Andréas Härry. Grosser Theatersaal, Le Théâtre. Türöffnung 19 Uhr, Start 19.30 Uhr. Eintritt frei
Mark Balsiger, Politologe
Mark Balsiger war Journalist, Medienmanager im Ausland, Pressesprecher für das VBS und schrieb drei Bücher über politische Kommunikation. Seit 2002 führt er eine Firma, die Schwerpunkte bei Krisenkommunikation, Medientraining, Öffentlichkeitsarbeit und Politikanalyse setzt. (Bild: zvg)