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Zu Besuch im alten Gersagkeller: «Sie rannten uns die Bude ein»

27. Dezember 2023
Wo heute Tanzproben für weltbekannte Musicals abgehalten werden, ging es einst ziemlich wild zu und her. Der ehemalige «Gersag-Chäller» avancierte ab Mitte der 1970er Jahre zum beliebten Partylokal der aufbegehrenden Jugend - und Emmen damit zum regionalen Hotspot einer um sich greifenden Jugendkultur.

«Ohne AJZeit keine Weihnachtszeit», heisst es auf einem Flugblatt der Jugend- und Hausbesetzerbewegung der 80er-Jahre in Zürich. Als im Mai 1980 der Zürcher Stadtrat die Renovation des Opernhauses genehmigte, forderte die «Gegenseite» Geld und Raum für ein «Autonomes Jugendzentrum (AJZ)». Die Idee prallte ab, woraufhin die jungen Zürcherinnen und Zürcher vor Zorn lichterloh brannten. Der bekannteste Spruch dieser Zeit: «Macht aus diesem Staat Gurkensalat.» Bald sprang der Funke auch auf Bern, Lausanne und Genf über. Gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, Hausbesetzungen und viel Punk prägten die Jugendunruhen in der Schweiz.

Die Forderung der Jugendbewegung nach mehr kulturellem Freiraum war jedoch nicht bloss ein Phänomen der Grossstädte. So äusserte sich der rebellische Zeitgeist vor allem durch eine musikalische und modische Abgrenzung von der Elterngeneration auch in Emmenbrücke – dies nicht zuletzt im «Gersag-Chäller».

Discoeinnahmen für die Jugendberatung
«Sie rannten uns die Bude ein», erinnert sich Marcel Nellen. 16 Jahre alt war er, als der «Chäller» zum neuen Jugendzentrum in Emmen wurde. Das alte Bauernhaus zwischen der Marienkirche und der Bäckerei Bucher, das den Jugendlichen zuvor als Treffpunkt gedient hatte, wurde abgerissen. Mit dem Bau des Kongresszentrums Gersag fand das Jugendzentrum im Jahr 1973 schliesslich ein neues Zuhause im «Chäller», der bald ein beliebtes Konzertlokal und Partyziel für Musikliebhaberinnen und Tanzfanatiker aus allen Stilrichtungen wurde. Denn fast zehn Jahre bevor der Sedel in Luzern Probe- und Konzerträumlichkeiten bot, hatte sich der «Chäller» bereits als Konzertlokal etabliert. Mangels alternativer Lokalitäten für Auftritte junger Bands und wegen spärlicher Ausgehmöglichkeiten für tanzwütige Jugendliche genoss der «Chäller» deshalb schnell eine ungemeine Beliebtheit.

Der «Gersag-Chäller» war aber auch Treffpunkt und Anlaufstelle für die Emmer Jugend, die mit Fragen und Problemen die nebenamtlich tätigen Leiter zunehmend überforderte. So kam es, dass das «Chäller»-OK Ende der 70er-Jahre einen Sozial- und Jugendarbeiter einstellte. Aus diesem Projekt entstand zwei Jahre später die erste Jugendberatung in Emmenbrücke. «Anfangs hatten sie diese noch mit Geldern aus den Discoeinnahmen finanzieren können», erklärt Nellen. Doch als die Discowelle abgeklungen ist, war die Finanzierung nicht mehr möglich und die Jugendberatung wurde schliesslich von der Gemeinde übernommen.

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Marcel Nellen, einst Programmchef und -leiter im «Chäller». (Bild: lbr)

Die wilden 80er
Als Barmann und Eingangskontrolleur war der 16-jährige Marcel Nellen bereits kurz nach der Eröffnung Teil des «Chällers». Von da arbeitete er sich als Programmchef und -leiter bis zum Präsidenten des Trägervereins hoch. Als DJ legte er regelmässig Platten auf. Sein Markenzeichen: «Nutbush City Limits» von Tina Turner, mit dem er jeden Discoabend eröffnete.

Ansonsten habe er, was den Musikstil angeht, keine grossen Präferenzen gepflegt. Hauptsache, gute Musik, war die Devise. «Ich habe eigentlich alles Mögliche gespielt. Je nachdem, was an diesem Abend Programm war. Mir hat vieles gefallen. Ob Teddy-Sound oder Punk, das war mir einerlei.» Wenn es um Musik ging, kannten weder Nellen noch der «Chäller» Berührungsängste: von Rock ’n’ Roll über Disco bis zu Jazz – im «Chäller» fand man alles, als Vinyl von Nellen als DJ aufgelegt und zur Tanzmusik gezwickt oder als Live-Musik durch diverse lokal und später auch international bekannte Künstlerinnen und Künstler. «Polo Hofer gab damals ein tolles Doppelkonzert im Keller. Es war innerhalb von Minuten ausverkauft.»

Ganz dem Zeitgeist entsprechend, wurden die Gäste häufig von musik- und alkoholbedingtem Übermut erfasst. Nach einem Konzert von Krokus, das, wie im Fall von prominenteren Künstlerinnen und Künstlern üblich, im grossen Saal stattfand, sei vor lauter Mitfiebern der Orchestergraben etwas abgesunken. «Das war dann für eine Weile das letzte Konzert, das wir im grossen Saal mitveranstalten durften», sagt Nellen mit einem verschmitzten Lächeln.

Schweizer Musikgeschichte schreiben
Der «Chäller» durfte nicht nur Auftritte vieler prominenter Gäste wie Ian Gillan, Gotthard oder eben Krokus zu seinen Erfolgen zählen. Im November 1979 schrieb der «Chäller» mit dem ersten Punkfestival «Swiss Punk Now» Schweizer Musikgeschichte. An zwei Tagen zogen 14 Bands einige hundert Punks nach Emmenbrücke. Die Liste der auftretenden Bands gibt einen guten Einblick in die einschlägige Szene: Technicolor, Mistery Action, Freshcolor, Liars, IV Sex, Crazy, Kraft durch Freude, TNT und andere brachten den «Chäller» zum Kochen.

Dass der Anlass reibungslos ablief, war allerdings nicht selbstverständlich. Das «Chäller»-OK brauchte viel Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen, drohten doch die Teddys damit, jeden Punk gnadenlos zu verprügeln. Bomberjackentragend, jeansliebend und gutfrisiert war ein Teddy nicht nur im Erscheinungsbild ein Gegenstück zum verruchten Punk. Denn die Auflehnung gegenüber der Elterngeneration ging oftmals Hand in Hand mit einer übertriebenen Identifikation mit Künstlerinnen und Künstlern, die nicht nur modisch und musikalisch zum Vorbild wurden, sondern auch eine gewisse Lebensphilosophie verkörperten. Kurz gesagt: Punks und Teddys konnten sich gar nicht leiden.

Langes Haar und Bart, Marcel Nellen im «Chäller» in Emmenbrücke. (Bild: zvg)

Wo ein Teddy auf einen Punk traf, war mit Pöbeleien und bisweilen blutigen Fäusten zu rechnen. Nicht unbegründet war denn auch die Befürchtung, die Teddys könnten am Punkfestival für Unruhe sorgen. Die Lösung des Problems sei simpel, aber effektiv gewesen, erzählt Nellen: «Wir haben das Sicherheitspersonal in Zweiergruppen aus je einem Punk und einem Teddy eingeteilt und den Teddys als Gegenleistung pro Woche einen Abend Rock ’n’ Roll im ‹Chäller› versprochen.»

Wie aus einem Film entsprungen wirkt die Szene, die Nellen schildert. Doch sei die Identitätssuche in der Musik und deren Kultur zu seiner Jugendzeit gefühlsmässig intensiver gewesen als heute. Sie diente dem Bedürfnis nach Abgrenzung von den Eltern und dem eigenen Erwachsenwerden. Ein Bedürfnis, das den politischen Tumulten der Jugendunruhen genauso zugrunde liegt wie der modischen und musikalischen Distanzierung von der Elterngeneration. Nellens lange Haare, die Jeans und der etwas rebellische Musikgeschmack seien die Sinnbilder für sein eigenes jugendliches Aufbegehren gegen eine etwas träge und langweilige Gesellschaft gewesen. 

Etwas Freches, Leichtes und Unbeschwertes habe diese Zeit gehabt, besinnt sich Marcel Nellen. Weniger Regeln, mehr Ausprobieren sowie musikalische und gesellschaftliche Bewegung hätte die 80er-Jahre geprägt.

Hinweis: Der Beitrag ist erstmals im November 2019 erschienen.

Gersagkeller
Die Black Mountain Blues Band rockt den «Chäller». (Bild: zvg)